Ab wann ist ein Kind gefährdet?
Wenn ein Kind weint, muss das noch lange kein Hinweis auf eine Gefährdung seines Wohls sein. Der Orientierungskatalog Kindeswohl gibt Hinweise auf tatsächliche Gefahrenanzeichen. | Foto: Evan Amos
Landkreis Görlitz. Mutter-Vater-Kind – nicht immer verläuft das Zusammenleben in den Familien harmonisch. Oftmals kommt es zu verbalen oder auch handgreiflichen Gewaltausbrüchen, oder das Kind wird vernachlässigt. Jahr für Jahr steigen die Kosten, die der Landkreis Görlitz dafür aufwenden muss, um die schlimmsten Folgen dieser Vorgänge abzumildern und den betroffenen Kindern ein vernünftiges Lebensumfeld zu sichern.
Ab wann ist ein Kind gefährdet? Diese Frage haben sich bereits im Jahre 2008 Pädagogen, Ärzte, Familienrichter und Mitarbeiter des Jugendamtes im Landkreis Görlitz gestellt. Ergebnis der Überlegungen war ein "Orientierungskatalog Kindeswohl", der all jenen, die mit Kindern und Familien arbeiten, wichtige Hinweise zur Beurteilung des Einzelfalles bot.
"Doch die Zeit steht nicht still, und viele neue Entwicklungen machten es erforderlich, den Katalog zu überarbeiten", erklärt Andreas Schulze. Der Mitarbeiter des Tierra – Eine Welt e.V. Görlitz ist einer von drei Koordinatoren, die in den letzten Monaten maßgeblich am Entstehen der Neuauflage beteiligt waren. Insbesondere die neuen Medien, deren stetig zunehmende Nutzung neben Chancen auch erhebliche Risiken in sich birgt, waren im ursprünglichen Orientierungskatalog Kindeswohl nur unzureichend belichtet.
Doch auch synthetische Drogen wie Crystal Meth, die 2008 noch kaum eine Rolle spielten, müssen jetzt in die Betrachtungen zur Gefährdung von Kindern und Jugendlichen einbezogen werden – sei es durch den Konsum der Eltern oder durch eigene "Begegnungen" damit. Vom Aufbau her hingegen ähnelt der neue Katalog seinem Vorgänger, auch wenn er insgesamt etwas bunter und "peppiger" gestaltet ist: "Anhand von Kriterien, wie 'Schutz vor Gefahren', 'Körperpflege', 'Ernährung' oder auch 'Bildung, Förderung und Entwicklung' haben wir Merkmale erarbeitet, die sich in vier Kategorien untergliedern – vom Idealzustand bis hin zur konkreten Gefährdung des Kindes", so Andreas Schulze.
Anhand genau definierter Kriterien gibt der Katalog Auskunft über verschiedene Gefährdungsgrade des Kindes.
"Anhand dieser Kriterien kann jeder, der beruflich oder auch ehrenamtlich mit Kindern und Jugendlichen zu tun hat, auf seinem konkreten Fachgebiet abschätzen, welcher Handlungsbedarf besteht." Kommt beispielsweise das Kind hin und wieder in verschmutzter oder nicht der Witterung angemessener Kleidung, dann stellt dies einen "unzureichenden" Zustand dar – die Situation soll weiter beobachtet und nach Möglichkeit das Gespräch mit den Eltern gesucht werden.
Passiert dies immer wieder, oder hat das Kind stets dieselben, ungewaschenen "Klamotten" an, dann besteht laut Katalog akuter Handlungsbedarf unter Einbezug des Jugendamtes.
Dass der Orientierungskatalog Kindeswohl bereits in der Vergangenheit eine wertvolle Hilfe darstellte, bestätigen Vertreter aus der Praxis: "Der Katalog schärft die Wahrnehmung auch für subtile Anzeichen, die man auf den ersten Blick gar nicht wahrnimmt", meint etwa Julia Gottschalk, Kinderärztin am Klinikum Görlitz.
Und ihr Kollege Matthias Genné, Chefarzt der Kinderklinik am Kreiskrankenhaus Weißwasser, schätzt an dem Katalog, dass dieser "eine ganzheitliche Betrachtung über die eigene Praxis hinaus" ermögliche. Die Mitarbeit an ihm habe sich – entgegen erster Befürchtungen – als "alles andere als trocken und dröge" herausgestellt.
